„Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.“ Reittherapeutin Sylvia Freytag gibt diesem Sprichwort absolut recht. Denn mit Kindern und Jugendlichen unserer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Bezirkskrankenhaus Bayreuth fährt sie regelmäßig auf die „Grizzli Ranch“ nach Wehelitz und arbeitet mit ihren beiden Therapiepferden Nero und Evita. Immer mit von der Partie ist auch ihr Azubi-Therapiehund Dallos. Und seit letzten Herbst auch Stute Chica, die gerade ihre Therapie-Ausbildung macht.
Betritt man das Gelände des Laufstalls „Grizzli Ranch“ in Wehelitz, taucht man ein in eine andere Welt. Knapp 20 Pferde haben hier ihr Zuhause. Anders als sonst, stehen die Tiere nicht in Boxen, sondern in der Herde auf weitläufigen Koppeln. Als Sylvia Freytag mit den beiden Patientinnen Ina und Annabell an den Zaun tritt, kommen gleich drei Pferde angelaufen, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen. „Das weiche Fell, die großen Augen, das sanfte Wesen – das hat natürlich großen Aufforderungscharakter für die Kinder und Jugendlichen“, erklärt die Therapeutin für sozial- und heilpädagogisches Reiten, wie es korrekt heißt. Und die Tiere treten dem Menschen völlig wertfrei gegenüber. Das schätzen die jungen Patienten sehr und können sich für eine gute Stunde völlig fallen lassen.
Zweimal täglich fährt Sylvia Freytag für die Reittherapie mit Patienten raus nach Wehelitz. Oft in Einzelbetreuung. „Dann kann ich am besten auf die Bedürfnisse und Anforderungen eingehen.“ Welche das sind, bespricht Sylvia Freytag im Vorfeld mit den Therapeuten. Verantwortung übernehmen, die emotionale Schwingungsfähigkeit fördern, die jungen Patienten aktivieren, sich an der frischen Luft zu bewegen, vor allem aber, die eigene Körperwahrnehmung schulen. „Ich habe viele Patienten mit Essstörungen dabei. Beim Reiten spürt man sich von Kopf bis Fuß. Mit einem gezielten Bodyscan können sie hineinspüren, wie einzelne Teile am Körper des Pferdes anliegen.“
Ina und Annabell sind alte Hasen, was den Umgang mit Sylvia Freytags Pferden angeht. Beide waren schon öfters bei der Reittherapie dabei. Sie holen die Tiere von der Koppel und führen sie gekonnt zum Putzplatz. Ina bindet Evita, ein norwegisches Fjordpferd, fest. Annabell kümmert sich um Shetlandpony Nero. Beide Tiere sind wesens- und charakterstark und können gut auf Menschen zugehen. „Das macht nicht jedes Pferd“, erklärt Sylvia Freytag. 2012 hat sie mit der intensiven Ausbildung bei der Bayerischen Landesvereinigung für therapeutisches Reiten begonnen. Ein Jahr lang fuhr sie für jedes zweite Wochenende nach Larrieden – in der Nähe von Feuchtwangen. „Das war eine anstrengende Zeit. Aber es hat sich gelohnt“, strahlt sie und streicht Nero und Evita über die Rücken. Seit vergangenen Herbst haben sie Verstärkung bekommen. Stute Chica ist eine Pura Raza Espanola, kommt direkt aus Andalusien und wird gerade auch zum Therapiepferd ausgebildet.
Bevor die Patientinnen mit dem geführten Geländeritt starten können, bekommen die
Tiere erstmal die richtige Pflege. Wichtig ist der Reittherapeutin die Rundumversorgung. „Wir reiten hier nicht einfach nur eine Stunde lang, sondern erledigen auch alle Arbeiten, die drum herum anfallen. So lernen die Kinder, Verantwortung zu übernehmen.“ Die Mädchen holen das Putzzeug und legen los: „Wir bürsten den Schmutz aus dem Fell. Das ist auch gleichzeitig eine schöne Massage für die Pferde“, erklärt Ina. Völlig angstfrei streicht sie mit der Hand am Pferdebein hinunter und greift nach dem Huf, um ihn auszukratzen. Isabell knuddelt in der Zwischenzeit mit Dallos. Der ungarische Hütehund von Sylvia Freytag absolviert derzeit seine Ausbildung zum Therapiehund und ist immer mit dabei. „Ich bin sehr dankbar, dass ich so tierliebe Kollegen habe. Der Hund tut unserem kompletten Team gut.“
Fast geschafft: Ina und Annabell werfen eine weiche Matte auf Evitas Rücken und legen den Voltigier-Gurt an. „Wir reiten ohne Sattel und Steigbügel, damit man das Pferd besser spüren kann“, erklärt die Therapeutin. Über ein Podest steigt Ina auf. Annabell führt Nero am Gurt. Heute steht die idyllische Feld-Wald-Wiesenrunde auf dem Programm. Eine halbe Stunde geht es vorbei an großen Feldern und einer Weide mit Kühen. Rehe und Feldhasen sind in freier Wildbahn zu entdecken. „Für manche Kinder ist das das erste Naturerlebnis. Ich hatte schon 16-Jährige dabei, die vorher noch nie ein Reh auf einer Wiese gesehen haben“, sagt Sylvia Freytag.
Auf der Hälfte des Weges wird getauscht: Annabell steigt auf Evitas Rücken und Ina führt Nero. Auf dem Rückweg kommen sie an einem Feld vorbei. Ein Traktor wendet mit einem großen Gerät gerade das Heu. Unbeeindruckt und ohne Scheu gehen die Pferde daran vorbei. „Ich habe mit ihnen vorab ein Gelassenheitstraining absolviert, um genau solche Situationen zu üben und darauf vorbereitet zu sein“, erklärt Sylvia Freytag. „Ich muss mich auf meine Tiere verlassen können. Und Sie sich auf mich.“ Dallos wird beim Heuwender lieber angeleint. „Hier lernen die Kinder auch, dass man rücksichtvoll mit anderen und der Natur umgeht.“
Zurück auf der „Grizzli Ranch“ binden die Mädchen die Pferde wieder an. Jetzt wartet die nächste Massage mit der Bürste. Außerdem gibt es eine Runde Möhren und Leckerlis. Ina schmiegt ihren Kopf eng an Evita. Es ist ihre letzte Reittherapie-Einheit heute. Sie wird die Klinik bald verlassen.