Viele Situationen, gerade im Verkehrsrecht, scheinen rechtlich betrachtet eindeutig. Warum beispielsweise sollte ein Verkehrsteilnehmer haften, wenn ihm die Vorfahrt genommen wird? Oftmals auf den ersten Blick eindeutige Sachverhalte beschäftigen die Gerichte und sorgen für erstaunliche Ergebnisse.
Ulrich Eichbaum, Fachanwalt im Verkehrsrecht der Kanzlei F.E.L.S in Bayreuth, stellt im Folgenden die Problematik verschiedener Unfallsachverhalte dar.
Vorfahrt – und trotzdem eine Mitschuld?
Wer einem anderen die Vorfahrt nimmt, trägt die Schuld an einem Unfall. Aber gilt das immer? Nicht immer. Was war passiert: In dem verhandelten Fall hatte ein Autofahrer an einem Stoppschild angehalten. Die Straße war frei, er setzte zur Weiterfahrt an – doch dann kam ein Motorradfahrer, der plötzlich auftauchte und in die Seite des Autos fuhr. Der Autofahrer (der eigentlich Vorfahrt zu achten hatte) verlangte von dem Motorradfahrer Schadenersatz, da dieser zu schnell gefahren sei und dadurch den Unfall verursacht habe. Außerdem argumentierte er, dass er das Motorrad wegen einer Straßenkuppe nicht sehen konnte.
Das Landgericht Saarbrücken urteilte und gab dem Autofahrer Recht – der Motorradfahrer hat trotz Vorfahrt eine Mitschuld. Rechtlich gilt es hierbei den sog. Beweis des ersten Anscheins zu beachten. Hiernach greift zwar grundsätzlich der Anschein, dass derjenige, der einem anderen die Vorfahrt genommen hat, für den Unfall verantwortlich ist. Dieser Grundsatz kann jedoch durchbrochen werden, wenn der Vorfahrtsberechtigte zu schnell fährt. Nach einem durch das Gericht eingeholten Sachverständigengutachten kam heraus, dass der vorfahrtberechtigte Motorradfahrer mit 75 km/h statt der erlaubten 50 km/h unterwegs war. Hätte er die vorgegebene Geschwindigkeit eingehalten, wäre der Unfall für ihn vermeidbar gewesen. Ergo gaben die Richter am Landgericht Saarbrücken dem Motorradfahrer eine Mitschuld von einem Drittel.
Haftung bei Unfällen mit Kolonnenspringern
Autofahrer müssen nicht möglichst weit rechts am Fahrbahnrand fahren, um Kolonnenspringern das Überholen zu ermöglichen. Kommt es bei dem Manöver zu einem Unfall, haftet der Überholende möglicherweise allein. So das Landgericht Ellwangen in einem Urteil zum Az.: 1 S 70/23.
Ausgangspunkt: Ein Autofahrer war mit seinem Fahrzeug auf einer fünf Meter breiten Landstraße unterwegs, welche eine Fahrbahn pro Richtung hatte. Es gab weder einen Mittelstreifen noch ein Bankett. Es bildete sich eine Kolonne aus rund zehn Auto, wobei der Autofahrer nun nach und nach zu überholen begann.
Als er an den letzten drei Autos vorbei wollte, streifte er ein Auto an der Spitze der Kolonne – im Anschluss klagte der Fahrer nun auf Schadenersatz. Sein Argument: Der andere Verkehrsteilnehmer sei nach links ausgeschert, als er selbst schon beim Überholen mit seinem Auto war. So hätte der andere den Unfall allein verursacht, weil er gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen hätte.
Das Gericht sah die Rechtslage anders als der Überholer: Es gebe keine Verpflichtung, besonders weit rechts zu fahren, um das möglicherweise riskante Überholmanöver eines Kolonnenspringers zu ermöglichen – auch wenn grundsätzlich das Überholen von Kolonnen zulässig ist.
Für den überholenden Verkehrsteilnehmer kam es sogar noch schlimmer. Aber aufgrund der Situation mit dem kurvigen Streckenverlauf und der schmalen Straße, so die Richter, wog das Fehlverhalten des Überholenden so schwer, dass auch die Betriebsgefahr des anderen Unfallautos zurücktrat. Der Kolonnenspringer haftet allein, weil er bei unklarer Verkehrslage überholt hat.
Die vorgestellten Entscheidungen zeigen, dass Sie nach einem Unfall zur Beratung einen spezialisierten Fachanwalt im Verkehrsrecht aufsuchen sollten, um Ihre Ansprüche bzgl. des Blech- als auch Personenschadens prüfen und durchsetzen zu lassen.