Irgendwann hat man aufgehört zu zählen, wie oft das Ensemble beim Applaus reinkommen musste. In 25 Jahren ihrer Karriere in der Studiobühne habe sie so einen Applaus noch nie erlebt, sagte bei der Premierenfeier eine der Schauspielerinnen. Redlich verdient war er allemal.

„Die Befristeten“ von Elias Canetti hätte man gut und gerne als Tragödie inszenieren können. Schließlich geht es um ein Gedankenexperiment, das es in sich hat: Wie würde sich unser Leben gestalten, wenn wir genau wüssten, wann wir sterben? Musste man aber nicht, fand Regisseurin Marieluise Müller, und zauberte ein vordergründig leichtes Stück mit vielen komischen Elementen. Vordergründig, denn das Thema ist wie gesagt ein schweres. Und eines, das die Anwesenden durchaus bewegte und berührte. Das wurde in der Pause besonders deutlich: Lauschte man den Gesprächen der Zuschauer bei Wein und Bier, ging es nicht um Kinder, den letzten Restaurantbesuch oder andere alltägliche Dinge. Nein, ein jedes Paar oder Grüppchen analysierte, diskutierte, wog Vor- und Nachteile der alternativen „Lebensform“ in Canettis Drama ab.

Im Endeffekt setzt sich das Stück aus verschiedenen Episoden zusammen, die das Leben von Menschen zeigen, die wissen, wann sie sterben. Es geht um Dinge, die wir alle kennen, um Liebe, Trauer und Eifersucht, um Freundschaften und das Arbeitsleben, nur eben unter ganz anderen Vorzeichen als wir sie kennen. Doch es gibt auch diesen einen Zweifler (sehr überzeugend: Mathias Leithoff als Fünfzig), der alles in Frage stellt. Der weiß, dass es eine andere Zeit gab, eine, in der Menschen eben nicht wussten, wann der „Augenblick“ – ein Begriff, der sich durch das Stück wie ein roter bzw. eigentlich blauer Faden zieht – eintritt. Und der schließlich eine Revolution anzettelt. Die sich natürlich nicht ganz so entwickelt wie ursprünglich geplant. Am Ende ist alles offen, und der Zuschauer muss selbst entscheiden, welche Schlussfolgerungen er für sein eigenes Leben aus dem Stück zieht.

Blau ist die Farbe des Stücks: Alle Kostüme sind in den verschiedensten Blautönen gehalten – eine Interpretation, die die Handlung in den Himmel versetzt, oder auch in ein Wolkenkuckucksheim. Eine gute Entscheidung war es, „Die Befristeten“ im Saal aufzuführen und nicht auf der Hauptbühne. Durch die Nähe zur Bühne werden die Zuschauer zum Teil des Stücks, werden sowohl vom Kapselan (herrlich überzeichnet: Frank Müller) als auch von Fünfzig direkt angesprochen und tauchen emotional noch mehr ins Geschehen ein, was auch an den Reaktionen aus dem Publikum während des Stücks zu erkennen war.

Das Ensemble überzeugte auf ganzer Linie – obwohl fast jeder und jede in mehrere Rollen schlüpfte, war jede Figur einzigartig dargestellt. Vor allem Tina Leistner, die vom kleinen Zehnjährigen bis zur 93-jährigen Oma verschiedenste Charaktere darstellte, erntete tosenden, verdienten Applaus.

Marieluise Müller hat mit ihrem Team ein sehenswertes Stück kreiert – eines der Besten der Geschichte der Studiobühne, so hörte man aus dem Publikum. Absurd und die Hirnwindungen fordernd, aber gleichzeitig leicht verständlich und vor allem für jeden auf sein eigenes Leben übersetzbar. Klare Empfehlung.