Veröffentlicht am 10.10.2024 14:23

Depression kann jeden treffen. Immer.

Foto: ©Alphavector/Shutterstock
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Ganz objektiv betrachtet – es geht uns gut. Kein Krieg im eigenen Land. Ein soziales Netz, das auffängt, wenn es nicht läuft. Ein Dach über dem Kopf. Kein Hunger. Warum also traurig sein? Ob Depression etwas damit zu tun hat, dass es uns vielleicht zu gut geht, das erklärt Dr. med. Stephanie Tieden. Sie ist Leitende Oberärztin des Depressionszentrums und Neurostimulationszentrums am Bezirkskrankenhaus Bayreuth.

Haben wir Depressionen oder Burnout, weil es uns zu gut geht? In Kriegs- und Notzeiten fokussieren wir uns vermutlich auf etwas anderes als die Psyche, oder?
Dr. med. Tieden: Während einer akuten lebensbedrohlichen Situation, wie einem Krieg, geht es erst mal nur um das Funktionieren und weitere Überleben, das ist klar. Wie sehr Notsituationen aber an unserer Psyche zehren können, sehen wir an den unzähligen Menschen, die einen Krieg, eine Flucht oder andere existentiell bedrohliche Zustände überlebt haben und später posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen und Depressionen entwickeln. Das betrifft einerseits aktuell Menschen zum Beispiel aus der Ukraine oder Syrien, war aber auch schon früher der Fall.

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg sagt: Depression ist eine Krankheit des Überflusses – nicht der Not.
Dr. med. Tieden: Eine Wohlstandskrankheit ist Depression definitiv nicht, ganz im Gegenteil. Grundsätzlich können alle Menschen eine Depression bekommen, aber wir wissen, dass das Risiko sehr viel höher ist, je geringer der sogenannte Sozioökonomische Status ist. Das heißt, Menschen, die in Armut leben, keine gute Bildung bekommen haben oder ohne Beruf beziehungsweise arbeitslos sind, haben ein viel höheres Risiko als andere, die eben „im Wohlstand“ leben. Es ist quasi weniger der Wohlstand als solches, was depressiv machen kann, sondern – wie auch Alain Ehrenberg das sagt – das Scheitern daran, ihn für sich selbst zu erlangen. Obwohl uns doch suggeriert wird, dass jede und jeder das schaffen könne.

Wirtschaftliche Produktivität eines Landes und damit verbundener Wohlstand richtet den Blick auf Leistung: Was macht das mit den Menschen?
Dr. med. Tieden: Leistungsorientierung ist per se ja erst mal nichts Schlechtes. Das Streben nach Erfolg kann uns antreiben und weiterbringen und viele gute Auswirkungen auf uns einzelne aber auch die gesamte Gesellschaft haben. Allerdings hat Leistungsorientierung auch ihre Schattenseiten. In kapitalistischen Systemen wird uns ja suggeriert, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Im berühmten amerikanischen Traum wird man vom Tellerwäscher zum Millionär, aus eigener Kraft und Leistung.Aber das stimmt so nicht (mehr). Wir streben aber weiter danach, strengen uns an unsere gesamte Gesellschaft ist weiter auf Leistung ausgelegt. Das beschränkt sich nicht nur auf den beruflichen Erfolg und finanziellen Wohlstand, sondern auf alle Lebensbereiche. Wir alle sollen beruflich erfolgreich und gleichzeitig maximal gebildet und sportlich-fit sein, ein gutes soziales Umfeld haben und uns liebevoll um Partner, Kinder, Haus und Garten kümmern… und wer das nicht schafft, ist selbst schuld, hat versagt oder eben noch nicht genug getan. Gleichzeitig erleben wir durch Werbung und Marketing, dass Zufriedenheit und Glück vor allem an materiellen Wohlstand gekoppelt seien und es im Leben darum ginge, sich möglichst viel leisten und möglichst viel Besitz anhäufen zu können. Entsprechend können wir dann bitter enttäuscht werden, wenn wir selbst in der Millionenvilla und mit dem tollsten Auto unglücklich bleiben und nicht zufrieden sind, obwohl wir doch scheinbar „alles“ haben.

Sind besonders leistungsorientierte Menschen anfälliger für Depressionen?
Dr. med. Tieden: Ja, das kann ein Risikofaktor für die Entstehung von depressiven Störungen sein. Wobei man hier einschränkend sagen muss, dass Depressionen multifaktoriell bedingt sind und es nicht die Ursache gibt, sondern eher ein Zusammenwirken von ganz verschiedenen Faktoren. Aber ja, jemand der vor allem seinen Selbstwert stark an Leistung gekoppelt hat, hat ein erhöhtes Risiko für depressive Erkrankungen, wenn er oder sie an Leistungszielen scheitert und dann nicht nur ein Traum, sondern auch direkt das ganze Selbstbild und die Selbstdefinition gescheitert sind. Denn nach der Grundüberzeugung „ich bin etwas wert, weil ich etwas leiste“ folgt ja auch logisch „wenn ich nichts mehr leiste, was bin ich dann noch wert?“

Was sind Auslöser einer Depression?
Dr. med. Tieden: Wir gehen von einem sogenannten bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell aus. Es gibt einerseits biologische Faktoren, wie genetische Veranlagung oder begünstigende körperliche Erkrankungen, andererseits aber auch psychologische, wie zum Beispiel die schon erwähnte Grundannahme „ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste“, aber auch soziale Faktoren wie das Vorhandensein beziehungsweise der Mangel an guten sozialen Kontakten, Arbeit, finanzieller Sicherheit.

Anhand welcher Symptome merke ich eine Depression, was wäre dann der erste Schritt?
Dr. med. Tieden: Wir kennen neben den drei Hauptsymptomen gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und weniger Interesse sowie vermindertem Antrieb und schneller Ermüdbarkeit (im normalen Alltag) noch einige Nebensymptome, von denen einige für die Diagnosestellung vorliegen müssen: Konzentrationsmangel, wenig Selbstwert, Schuldgefühle oder Gefühle der Wertlosigkeit, negative Selbst- und Zukunftssicht und Zukunftsängste, Schlafstörungen, Appetitstörungen (oft mit Gewichtsverlust) und im schlimmsten Fall auch Suizidgedanken. Wenn solche Symptome länger als zwei Wochen andauern und sich nicht wieder bessern, sollte man sich Hilfe suchen. Hausärzte sind eine gute erste Anlaufstelle. Man kann auch online einen Test machen, allerdings sollte man bei Anzeichen für eine mögliche Depression unbedingt ärztliche und/oder psychotherapeutische Hilfe suchen.

Depressionszentrum am Bezirkskrankenhaus Bayreuth

0921/283-0
www.gebo-med.de

Behandlungen sind stationär oder tagesklinisch möglich.

    Selbsthilfegruppe:
    Selbsthilfebeauftragte Susanne Freund – 0921/283-9884


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